Auch wenn die Wahlen jeweils zum Medienspektakel werden: Sie sind in der Schweiz weniger wichtig als in anderen Ländern. Und auch ein wenig langweiliger; meistens zumindest. Die grossen Umbrüche in Sachen Wahlen haben in der Schweiz vor 100 und vor 50 Jahren stattgefunden.
Die nationalen Wahlen vom 20. Oktober 2019 waren für die Schweiz fast schon historisch: Mit plus 17 Sitzen (+ 6.1 Prozentpunkte) holten die Grünen den grössten Sitzgewinn einer Partei seit 100 Jahren. Zum Vergleich: Die deutsche CDU/CSU verlor bei den letzten Bundestags-Wahlen 2017 fast 9 Prozentpunkte, was für deutsche Verhältnisse nicht übermässig viel ist.
Eher ernüchternd dagegen die Wahlbeteiligung: 45.1 % der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab. Auch hier der Blick nach Deutschland: 76.2% nahmen an den letzten Wahlen teil.
Warum Wahlen weniger wichtig sind
Die beiden Vergleiche zeigen zwei wichtige Merkmale des politischen Systems der Schweiz in Bezug auf die Wahlen: Stabilität, also eher geringe Verschiebungen, und eine im internationalen Vergleich tiefe Wahlbeteiligung. Beides hat hauptsächlich mit der direkten Demokratie zu tun. In einem repräsentativen System wie in Deutschland kann das Volk nur alle vier Jahre mitbestimmen, weshalb die Wahlen immer auch eine Art Abrechnung mit den Parteien und dem politischen System sind, mit entsprechenden Verwerfungen. In der Schweiz haben die Bürgerinnen und Bürger in den Abstimmungen viele Gelegenheiten, der Schweizer Politik den Stempel aufzudrücken und die Politik des gewählten Parlaments bei Bedarf zu korrigieren. Deshalb sind die Wahlen in der Schweiz auch «weniger wichtig», die Wahlbeteiligung entsprechend tiefer.
Alle vier Jahre: 246 Sitze zu vergeben
Wahlberechtigt waren in der letzten Wahl 2019 knapp 5.5 Mio. Schweizerinnen und Schweizer, das sind etwas über 60 Prozent der Bevölkerung (wie gut die Bevölkerung im Parlament repräsentiert ist, beschreibe ich hier). Gewählt wird in der Schweiz alle vier Jahre, und zwar der Nationalrat mit 200 Sitzen und der Ständerat mit 46 Sitzen. Im Nationalrat steht jedem Kanton eine bestimmte Anzahl Sitze zu. Zürich als bevölkerungsreichster Kanton kann 35 Volksvertreterinnen oder -Vertreter nach Bern schicken, die sechs bevölkerungsschwächsten Kantone nur je eine oder einen. Im Ständerat, der sogenannten Kleinen Kammer, hat jeder Kanton, unabhängig von seiner Grösse, zwei Sitze (Ausnahme sind die Halbkantone, die je einen Sitz haben). So ist der Kanton Uri mit seinen gut 36'000 Einwohnern gleich stark vertreten wie Zürich mit 1,5 Millionen Einwohnern. Damit ist der Ständerat sozusagen der Inbegriff des nationalen Ausgleichs.
Parteiwahl, Personenwahl
Die Nationalrats-Wahlen werden in fast allen Kantonen im Proporz-System (Verhältnis-Wahlrecht) ausgetragen: die Parteien erhalten möglichst genau soviel Sitze im Parlament, wie es ihrem Wähleranteil entspricht. Jeder Kanton bildet dazu einen eigenen Wahlkreis. Gewählt werden eigentlich nicht die Kandidierenden, sondern die Partei-Listen mit den Kandidierenden drauf. Man kann auch sagen: die Nationalrats-Wahlen sind Parteiwahlen.
Demgegenüber werden bei den Ständerats-Wahlen die Kandidierenden selber und namentlich gewählt, es sind entsprechend Personenwahlen, die Parteizugehörigkeit spielt eine weniger wichtige Rolle. Hier kommt das Majorzsystem (Mehrheits-Wahlrecht) zum Zug: Die zwei Kandidierenden mit den meisten Stimmen sind gewählt, alle anderen gehen leer aus. Wie immer gibt es auch hier Ausnahmen: Neuenburg und Jura wählen auch die Ständeräte nach dem Proporz.
Die Meilensteine in der Wahl-Geschichte
In der Geschichte des schweizerischen Wahlsystems gibt es zwei historische Wegmarken: 1919 die Einführung des Proporzsystems für die Nationalratswahlen. Vorher hatten die Freisinnigen, ganz nach dem Majorz-Motto «the winner takes it all», das Parlament über Jahrzehnte dominiert; danach konnten sich die anderen Parteien etablieren, das Konkordanz-System der Schweiz (siehe auch K wie Konkordanz) wurde so überhaupt erst möglich. Und dann 1971 die Einführung des Frauenstimmrechts, was dazu führte, dass das Stimm- und Wahlvolk zahlenmässig verdoppelt wurde, die Wahlbeteiligung aber bis in die 90er-Jahre kontinuierlich sank. Vor allem aber führte es dazu, dass sich die Schweiz, 113 Jahre nach der Gründung des modernen Bundesstaates, endlich eine echte Demokratie nennen konnte.
Adrian Vatter: «Das politische System der Schweiz». Baden-Baden, Nomos 2016, 2. Auflage
Swissinfo, Renat Künzi, 14.8.19: So wird gewählt, so wird gezählt.