Das Volk, der Souverän, ist in der Schweiz noch etwas souveräner als in anderen Ländern. Allerdings ist gar nicht so klar, wer denn dieses Volk eigentlich ist, und was es will? Klar ist dagegen: Die Gesamtbevölkerung wird sowohl beim Stimmvolk wie auch im Parlament nur unzureichend abgebildet.
Als Souverän bezeichnet man die höchste Macht in einem Staat. In einer Demokratie ist es das Volk; deshalb heisst die Demokratie ja auch so, nämlich übersetzt «Volksherrschaft». In einer direkten Demokratie wie in der Schweiz ist das Volk noch etwas souveräner als in anderen Ländern, weil die Bürgerinnen und Bürger nicht nur alle paar Jahre das Parlament wählen, sondern auch mehrmals pro Jahr über Sachgeschäfte abstimmen können.
Das Volk bilden, formal gesehen, nur die stimm- und wahlberechtigten Schweizerinnen und Schweizer. Wenn wir uns diesen Schweizer Souverän etwas genauer anschauen, können wir uns fragen: 1. Bildet das Volk auch die Schweiz in ihrer Gesamtheit ab? (nein) 2. Wie stark bilden die Menschen, die auch stimmen und wählen gehen, die Bevölkerung ab? (schlecht) Und 3.: Wie gut ist das Volk im Parlament eigentlich repräsentiert? (sehr unterschiedlich)
Junge und Ausländer nicht repräsentiert
Die Schweiz zählte Ende 2018 8,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Stimm- und wahlberechtigt waren etwa 5,4 Millionen (inkl. Auslandschweizerinnen und -schweizer). Der Souverän, das Volk, repräsentiert also 64 Prozent der Gesamtbevölkerung. Nicht zum Volk gehören die unter 18-Jährigen und die Ausländerinnen und Ausländer. Alle Versuche, auf nationaler Ebene das Stimmrechtsalter zu senken oder der ausländischen Wohnbevölkerung mehr staatsbürgerliche Rechte zu geben, sind bisher deutlich gescheitert. Kantonal sieht das anders aus: Die Glarner zum Beispiel, sonst als eher konservativ bekannt, können seit 2007 bereits mit 16 abstimmen und wählen. Und die meisten Westschweizer Kantone kennen das Stimm- und Wahlrecht für Ausländer.
Männer, Ältere und Gutverdienende
Nun ist es ja nicht so, dass alle vom Volk ihr Stimm- und Wahlrecht auch ausüben. In der vergangenen Legislatur (2015-19) haben im Schnitt 45 Prozent teilgenommen, auch die Wahlbeteiligung 2019 lag bei gut 45 Prozent; das sind dann noch etwas über 2,4 Millionen Wählerinnen und Wähler (zur «tiefen» Stimmbeteiligung in der Schweiz siehe auch «A wie abstimmen»). Bei den Wählenden und Stimmenden sind Frauen leicht untervertreten, die unter 30-Jährigen massiv untervertreten, und auch schlechter Ausgebildete und schlechter Verdienende nehmen deutlich weniger an Wahlen und Abstimmungen teil. Man könnte also etwas überspitzt sagen: Die Entscheide für die 8,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz werden von 2,4 Millionen Menschen getroffen, bei denen Männer, Ältere und Gutverdienende deutlich übervertreten sind. Wobei die Männer, Älteren und Gutverdienenden wahrscheinlich sagen würden: Selber schuld, wenn die anderen nicht teilnehmen!
Noch dramatischer wird es natürlich, wenn man den Anteil der siegreichen Mehrheit an der Gesamtbevölkerung anschaut. Bis 1971 betrug dieser Wert jeweils zwischen 5 und 15 Prozent, danach (mit den Frauen) zwischen 12 und 24 Prozent (Linder/Mueller, S. 343).
Verheiratet, Christ, Hochschul-Absolvent
Zur letzten Frage: Repräsentiert wenigstens das Parlament die Bevölkerung bzw. das Volk angemessen? Rein geographisch stimmt es: Die Zahl der Nationalratssitze pro Kanton wird ja gemäss Bevölkerungszahl vergeben, die Basler und Luzerner, Romands und Tessiner sind also korrekt vertreten. Bei den demographischen Merkmalen sieht es allerdings anders aus. Dass Frauen und jüngere Menschen deutlich untervertreten sind im Parlament, ist allgemein bekannt. Eine Auswertung von SRF Data im Sommer 2019 hat aber auch gezeigt: Verheiratete sind gegenüber den Ledigen, Geschiedenen und Verwitweten stark übervertreten, ebenso Christinnen und Christen gegenüber Konfessionslosen und Muslimen und Hochschul-Absolventen gegenüber Menschen mit einer Berufslehre. Deutlich übervertreten sind Unternehmer, Juristinnen und Landwirte (böse Zungen würden zudem sagen: am stärksten übervertreten sind Krankenkassen-Lobbyisten).
In Sachen Repräsentanz der Bevölkerung haben die Wahlen 19 allerdings eine deutliche (und überfällige) Korrektur gebracht: Der Anteil der Frauen im Nationalrat ist von 32 Prozent auf 42 Prozent gestiegen, der Anteil der unter 40-Jährigen von 19 auf 27 Prozent.
Literaturhinweise:
Wolf Linder, Sean Mueller: Schweizerische Demokratie. Bern, Haupt 2017, 4. Auflage.
Wie das Parlament die Wähler abbildet – und wie nicht. SRF News, 27.8.2019