V wie Vernehmlassung

Unterschätzt und verkannt

04.01.2020

Eigentlich könnte in der Schweiz jede Bürgerin, jeder Bürger bei einer Gesetzesvorlage seine Meinung abgeben - die Vernehmlassung macht es möglich. Nur tut dies niemand. Die Digitalisierung könnte dies ändern und dazu führen, dass politische Partizipation auch für Menschen möglich wird, die sonst von den direktdemokratischen Prozessen ausgeschlossen sind. 

Vernehm… Wie? Was? Tönt nicht gerade sexy, die Vernehmlassung. Sie dürfte wohl das am meisten unterschätzte und am wenigsten bekannte Instrument der direkten Demokratie sein. 

Typisch schweizerisch

Die Vernehmlassung ist die organisierte vorparlamentarische Interessenvertretung (Adrian Vatter). Bevor ein Gesetzesentwurf ins Parlament kommt, werden die relevanten Kräfte wie Kantone, Parteien, Wirtschaftsverbände und andere (betroffene) Interessengruppen einbezogen und angehört. Das offizielle Ziel: Vorhaben des Bundes sollen «auf ihre sachliche Richtigkeit, Vollzugstauglichkeit und Akzeptanz hin geprüft werden» (Parlaments-Wörterbuch). Ausgedeutscht heisst das: Man will spätere Referenden vermeiden. Weil die Schweiz das einzige Land ist, in dem jedes Gesetz mittels Referendum vors Volk gebracht werden kann, ist auch das Vernehmlassungs-Verfahren eine typisch schweizerische Institution.

Die Teilnehmer an der Vernehmlassung können sich schriftlich und innert drei Monaten zu einem Gesetzesentwurf äussern. Es gibt keine gesetzliche Verpflichtung, ob und wie der Bundesrat die Vernehmlassungs-Antworten berücksichtigen muss. Je wichtiger der Absender, desto eher fliesst seine Antwort in die Vorlage ein. Sonst dürfte es zum Referendum nicht weit sein.

80 bis 130 Verfahren pro Jahr

Während referendumsfähige und referendumsfreudige Organisationen wie Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und politische Parteien recht viel Einfluss in den Vernehmlassungsverfahren haben, fühlten sich die Kantone lange Zeit zu wenig berücksichtigt – zumal sie oft die «Leidtragenden» sind, die die national erarbeiteten Gesetze kantonal vollziehen müssen. Ein klarer Ausdruck des Frustes über diese Geringschätzung war 2003 das Referendum der Kantone gegen das Steuerpaket.

1947 wurde das Vernehmlassungsverfahren eingeführt. Jahrzehntelang gab es zwischen 20 und 40 Vernehmlassungs- und Anhörungsverfahren pro Jahr (Anhörungen sind vereinfachte Verfahren für Verordnungen und technische Verfahren). Als 2005 ein eigenes Vernehmlassungs-Gesetz in Kraft trat, explodierte die Zahl geradezu; es sind nun zwischen 80 und 130 Verfahren pro Jahr (Vatter, S. 250), was kleinere Organisationen und Kantone ziemlich überfordert.

Grosse Chance durch Digitalisierung

Was die Vernehmlassung für die direkte Demokratie (also die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger) so interessant macht: Jede und Jeder, auch Jugendliche oder Ausländerinnen, die sonst von den demokratischen Prozessen weitgehend ausgeschlossen sind, kann sich an einer Vernehmlassung beteiligen. Nur tut dies bisher praktisch niemand. Die Digitalisierung könnte das ändern.

Maximilian Stern und Daniel Graf bezeichnen in ihrer «Agenda für eine digitale Demokratie» die Vernehmlassung als «Herzstück des Gesetzgebungsverfahrens» und damit auch der Demokratie. Dieses Herzstück könnte, so stellen es sich die Autoren «im Sinn eines Gedankenspiels» vor, auf einer digitalen Plattform stattfinden und damit «die Partizipationsmöglichkeiten erweitern» und «die Qualität der im Parlament diskutierten Lösungen steigern» (Graf/Stern, S. 71).

Crowd Lobbying als neue Macht?

Mittlerweile ist Daniel Graf vom Gedankenspiel zur Aktion übergegangen. Mitte 2019 hat er mit seinem Think-Tank Public Beta das Projekt «Crowd Lobbying» angestossen, eine Plattform «zur gezielten Beeinflussung von Regierung und Parlament im Namen einer adhoc-Koalition von engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die sich von anderen Interessengruppen nicht oder zu wenig vertreten fühlen» (Projektpapier Crowd Lobbying). Die Plattform soll es u.a. einzelnen Bürgerinnen und Bürgern oder kleinen Organisationen ermöglichen, an den Vernehmlassungsverfahren teilzunehmen. Wenn Graf davon spricht, dass Crowd Lobbying aus seiner Sicht mehr Potenzial hat als seine andere Plattform WeCollect (siehe auch U wie Unterschriften), dann könnte das Wort Vernehmlassung bald deutlich bekannter sein als bisher.

 

Literatur:

Adrian Vatter: Das politische System der Schweiz. Baden-Baden, Nomos 2016, 2. Auflage.

Daniel Graf, Maximilian Stern: Agenda für eine digitale Demokratie. Zürich, NZZ Libro, 2018. 

Link auf die laufenden Vernehmlassung beim Bund