Das kleine A-Z der Schweizer Demokratie beginnt passend mit A wie abstimmen - dem zentralen Element der direkten Demokratie. Und nein: die Stimmbeteiligung ist nicht so schlecht, wie oft gesagt.
Abstimmungen sind das zentrale Element des schweizerischen direktdemokratischen Systems. Wer im Ausland erzählt, dass wir in der Schweiz drei- bis viermal pro Jahr bei Sachfragen den Daumen heben oder senken können, wird meist mit ungläubigen Blicken bedacht. Erstaunen darf das nicht: das Wissen über das politische System der Schweiz im Ausland, auch im umliegenden, ist gering. Mehr Aufmerksamkeit hätte es verdient, denn die Schweiz ist mit grossem Abstand das Land mit den ausgebautesten Volksrechten der Welt. Ein Viertel aller nationalen Volksabstimmungen, die in den letzten gut 200 Jahren weltweit durchgeführt wurden, fanden in der Schweiz statt.
Die Bremse und das Gaspedal
Mit 100'000 Unterschriften kann eine Initiative eingereicht werden; sie verlangt eine Änderung der Verfassung und stösst damit einen Gesetzgebungsprozess an. 50'000 Unterschriften braucht es für ein Referendum; damit können bereits beschlossene Gesetze gutgeheissen oder verworfen werden. Somit hat das Schweizer Volk ein Mitspracherecht über den gesamten politischen Prozess. Initiativen werden oft auch als Gaspedal der Demokratie bezeichnet, weil sie einen politischen Prozess beschleunigen können. Entsprechend ist das Referendum das Bremspedal.
Abstimmungen finden nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch auf Kantons- und Gemeindeebene statt. So stimmten die Schweizerinnen und Schweizer am 21. Mai 2017 dem neuen Energiegesetz zu (und besiegelten damit das Ende der Schweizer Atomenergie), gleichzeitig wurde im Kanton Solothurn eine Initiative gegen den neuen Lehrplan 21 verworfen, und die Gemeinde Ebikon im Kanton Luzern beschloss, dass kommerzielle Veranstalter künftig 10% der Ticket-Einnahmen abliefern müssen.
Schlechte Stimmbeteiligung?
Im Durchschnitt nehmen etwa 45% der Stimmberechtigten an den Abstimmungen teil (2010-2018). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Stimmbeteiligungen von 60% und mehr die Regel. Den Tiefpunkt gab es nach der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 mit durchschnittlich etwa 40%. Seit 1990 steigt die Beteiligung langsam wieder an. Die höchste Stimmbeteiligung in neuerer Zeit erreichte die Abstimmung über den Beitritt zum EWR 1992: 78,8% der Stimmbürger beteiligten sich und schickten das Ansinnen des Bundesrats knapp bachab.
Die Kritik kommt regelmässig: Eine Demokratie, an der nicht einmal die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger teilnehme (ganz zu schweigen von den nicht Stimmberechtigten wie Kinder und Ausländer), sei keine Demokratie, zumindest kein Musterbeispiel. Die Kritik verkennt, dass die Schweizerinnen und Schweizer eben nicht nur alle Schaltjahre an die Urne gerufen werden, sondern regelmässig, was die Beteiligung nicht fördert. Zudem sagt die Stimmbeteiligung von 45% nichts aus über die Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern, die sich regelmässig an Abstimmungen beteiligen. Gemäss dem Forschungsinstitut GFS Bern (1) kann man davon ausgehen, dass 25 Prozent an jeder Abstimmung teilnehmen, dass sich 20 Prozent nie beteiligen und dass 55 Prozent fallweise bzw. abhängig vom Thema mitentscheiden. Anders gesagt: 80 Prozent der Stimmbürger nehmen mehr oder weniger regelmässig an den Volksentscheiden teil. Das ist doch gar nicht so schlecht.
A wie Antizipation
Das Geniale an Referendum und Initiative ist, dass sie Regierung und Parlament zwingen, sehr vorausschauend oder eben antizipierend zu politisieren. Jedes Gesetz muss so ausgearbeitet werden, dass es eine allfällige Referendums-Abstimmung vor dem Volk überstehen würde - sonst ist die ganze Arbeit für die Katz. Auch die Initiativen haben einen antizipatorischen Charakter. Wenn sich die politische Klasse nicht genügend den Problemen und Sorgen der Bevölkerung annimmt, dann droht eine Initiative - die meist deutlich radikaler formuliert ist als ein entsprechendes Gesetz. Und wenn eine solch radikale Initiative mal eingereicht ist, dann bemühen sich Regierung und Parlament wiederum, ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. Mit einem abgeschwächten Gegenvorschlag zum gleichen Thema. Oder in dem die mehrheitsfähigen Elemente der Initiative bereits vor der Abstimmung eingeführt oder angekündigt werden.
(1) Befragungsbericht GFS Bern zur Abstimmung zum Energiegesetz vom 21.5.17