O wie Opposition

Wer schaut den Regierenden auf die Finger?

07.07.2019

Wer ist die Opposition in einem Land, wo der Konsens das prägende Merkmal des Polit-Systems ist und es offiziell also gar keine Opposition gibt? Die Antwort ist mehrschichtig: kleine Parteien, alle Parteien, das Volk. 

In einer Konkurrenz-Demokratie wie Deutschland, Frankreich oder USA ist der Fall klar: Da gibt es eine Regierungspartei (oder -Koalition), und die anderen Parteien sind die Opposition und tun alles, um der Regierung das Leben schwer zu machen. Wie ist das aber in einer Konsensdemokratie wie in der Schweiz? Wer ist die Opposition in einem Land, wo es keine offizielle Opposition gibt, weil ja alle grossen Parteien in die Regierung eingebunden sind?

Opposition 1: die kleinen Parteien

Opposition sind die kleinen Parteien, die nicht in der Regierung sind. Also die Grünen, die BDP, EVP etc. Das ist aber eine schwache Opposition, die im aktuellen Parlament gerade mal über 30 der 246 Sitze verfügt. Allerdings können im direktdemokratischen System auch kleinere Parteien mithilfe von Referenden und Initiativen eine gewisse oppositionelle Kraft entwickeln. 

Opposition 2: alle Parteien 

Opposition sind alle Parteien, auch die, die in der Regierung vertreten sind. Das heisst: die Parteien sind fallweise in der Opposition, je nach Thema und Geschäft. Die Parlamentarier der grossen Parteien fühlen sich der Regierung, auch ihren eigenen Bundesräten, viel weniger verpflichtet als in Konkurrenzdemokratien, wo oft der Regierungschef auch noch Partei-Vorsitzender der Regierungspartei ist (in Grossbritannien ist die Chefin der Regierungspartei immer auch gleich Premierministerin). Im Gegenzug politisieren aber auch die Bundesräte mehr oder weniger unabhängig von ihren Parteien; sie geben sozusagen ihr Parteibuch bei der Wahl ab und verpflichten sich dafür der Konkordanz und dem Kollegialitäts-Prinzip (siehe K wie Konkordanz). Das Wechselspiel zwischen Regierungspartei und Opposition beherrschen in der Schweiz die Polparteien SP und SVP am besten. So war die SP in der ablaufenden Legislatur in 45 Prozent der Parlamentsentscheide in der Opposition, die SVP in 35 Prozent (Quelle: Smartmonitor). Auch bei den Volksabstimmungen stand die SP von den Regierungsparteien am meisten in Opposition zu Regierung und Parlament (und deshalb auch am meisten auf der Verliererseite), knapp vor der SVP. Am regierungstreusten und damit am wenigsten in Opposition sind die Mitte-Parteien FDP, BDP und CVP. Grundsätzlich kann man sagen, dass im Schweizerischen Parlament wechselnde Koalitionen statt starrer Regierungs-Oppositions-Strukturen den Ton angeben. 

Opposition 3: das Volk

Wenn man Opposition als diejenige Kraft definiert, die der herrschenden Politik auf die Finger schaut und Widerstand entgegenbringt, dann ist die Opposition das Volk. Die Schweiz ist das einzige Land weltweit, in dem das Volk über jedes neue Gesetz (oder auch über Gesetzesänderungen) abstimmen kann (sofern das Referendum ergriffen wird). Die Schweiz ist auch das einzige Land, in dem einzelne Bürgerinnen oder Gruppierungen Ideen zur Verfassungsänderung (und damit auch zur Ausarbeitung von neuen Gesetzen) zur Abstimmungen bringen können. Das heisst also: Sowohl bei Gesetzen, die beschlossen werden, wie auch bei politischen Themen, die zuwenig Gewicht bekommen, kann das Volk dem Parlament und der Regierung seine (abweichende) Meinung aufzwingen. Deshalb ist das Volk in der Schweiz gleichzeitig Opposition und Souverän, also letztendlich bestimmende Einheit. Die wohl wichtigste Rolle dieser Volks-Opposition ist aber die präventive: Parlament und Regierung wissen, dass das Volk das letzte Wort hat, und gestalten Gesetze im Normalfall deshalb so, dass sie ein allfälliges Referendum überstehen würden.

Oppositionsparteien einbinden

Ursprünglich hatte auch die Schweiz ein Regierungs-Oppositions-System. Von der Gründung des Bundesstaates 1848 bis 1891 war der Bundesrat vollständig in der Hand der Freisinnigen. Die Opposition waren die Katholisch-Konservativen (heute CVP), die mit der Einführung des fakultativen Referendums 1874 ein mächtiges Instrument in die Hand bekamen, mit dem sie viele Regierungs-Geschäfte blockieren oder zumindest erschweren konnten. Der Bundesrats-Sitz, den man den Katholisch-Konservativen 1891 zugestand, war deshalb auch der Versuch, die Opposition einzubinden und damit weniger schlagkräftig zu machen. Dieses Spiel wiederholte sich, zusätzlich befeuert durch das Instrument der Volksinitiative und das Proporz-Wahlrecht,  im Verlauf der Jahrzehnte noch mehrmals, die Bürgerliche Gewerbe- und Bauern-Partei BGB (heute SVP) wurde genauso eingebunden wie später auch die Sozialdemokraten. 


Literatur: 

Adrian Vatter: Das politische System der Schweiz. Baden-Baden, Nomos 2016, 2. Auflage (S. 362)

Wolf Linder, Sean Müller: Schweizerische Demokratie. Bern, Haupt 2017, 4. Auflage.