L L wie langweilig

... und erfolgreich

Ja, es stimmt: Schweizer Politik ist langweilig. Bevor man das kritisiert und bedauert, sollte man sich aber fragen, warum sie so langweilig ist. Und was die Vorzüge sind. 

Am Mittwoch, 12. Dezember 2007, erlebte die Schweiz eine politische Sensation. Um 10.40 Uhr wurde anstelle des amtierenden Bundesrats Christoph Blocher die Bündner Finanzdirektorin Eveline Widmer-Schlumpf in den Bundesrat gewählt. Die Tochter von Alt-Bundesrat Leon Schlumpf erbat sich einen Tag Bedenkzeit und nahm die Wahl am 13. Dezember an. 

Ansonsten: gepflegte Langeweile

Sensationen sind allerdings rar in der Schweizer Politik. Die erste Frau im Bundesrat 1984 war eine (und Elisabeth Kopps Rücktritt ein paar Jahre später auch), das Volks-Nein zum EWR-Vertrag 1992 ebenfalls, 2003 wurde mit Ruth Metzler erstmals in der neueren Zeit ein amtierendes Mitglied des Bundesrats nicht wiedergewählt (und durch oben erwähnten Christoph Blocher ersetzt), und das Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative der SVP 2014 hallt bis heute nach. Ansonsten: gepflegte Langeweile. Verschiebungen von über einem Prozentpunkt bei Wahlen sind bereits halbe Erdrutsche. Initiativen und Referenden werden zwar heftig diskutiert, aber danach meist im Sinn von Parlament und Regierung erledigt. Und bei Bundesrats-Wahlen werden im Normalfall Männer und Frauen gewählt, die mehr durch Fleiss und politischen Pragmatismus als durch Charisma und revolutionäre Ideen aufgefallen sind. 

Pragmatismus und die Kunst des Machbaren

Ja, das politische System der Schweiz ist langweilig. Die Schweiz kann nicht mit Regierungswechseln auftrumpfen, und auch radikale politische Kurskorrekturen sind so selten wie Dauerregen in der Sahara. Die Schweizer Politik ist langweilig, weil sie auf maximale Stabilität und Berechenbarkeit ausgelegt ist. Das System der Machtteilung, die Checks and Balances im politischen Räderwerk, lassen keine grossen Sprünge zu. Wenn alle Interessengruppen einbezogen werden sollen, wenn jedes Reformwerk auch vor dem Volk bestehen muss, dann ist die Kunst des Machbaren gefragt. 

Die Schweiz sei reformunfähig, heisst es dann schnell. Mag ja sein, dass man sich bei gewissen festgefahrenen Geschäften wie einer nachhaltigen Rentenreform oder den Verhandlungen mit der EU etwas mehr Gestaltungswillen wünschte. Allerdings, und da verweise ich auf E wie erfolgreich, ist die Schweiz in den letzten Jahrzehnten mit dem konstanten Einbezug der Interessengruppen, mit dem Weg der kleinen Schritte und «homöopathischen» Verbesserungen, ausserordentlich gut gefahren. Die Schweiz ist, man kann es so deutlich sagen, politisch und wirtschaftlich ein Erfolgsmodell. 

Die Basis für den Erfolg

Und so schrieb Philipp Loser folgerichtig im «Bund» unter dem Titel «Mein Gott, ist das langweilig»: «Was man als Journalist bedauert, sollte man als Bürger schätzen. Konsens, Durchschnittlichkeit, Vorhersehbarkeit und gepflegte Langeweile sind nun mal die besten Bedingungen für Stabilität. Für Kontinuität. Und damit für Erfolg. Dass man deswegen manchmal von der Welt ignoriert wird: Man muss damit leben können.» (17.6.17

Dass auch im Bundesrat solides Schaffen vor genialen Geistesblitzen kommt, kann man bedauern. Oder, wie der Autor Charles Lewinski, richtig gut finden: «Denn dass wir Schweizer trotz allen Auseinandersetzungen und Problemen in einem so stabilen Staat leben, verdanken wir vor allem der Tatsache, dass wir von so wunderbar langweiligen Menschen regiert werden, die sich erst noch mit anderen, ebenso langweiligen Menschen in endlosen Sitzungen auf Entscheidungen einigen müssen. (…) Wenn es nach mir ginge, müsste im Anforderungsprofil für jeden Bundesratskandidaten ganz weit oben stehen: «Darf nicht zu interessant daherkommen.» Und erst ganz, ganz weit unten die Forderung, bei den unvermeidlichen Showauftritten des Amtes nicht allzu dilettantisch zu wirken.» (NZZ am Sonntag, 15.12.2018

In der Wirtschaft heisst es anders

Interessant scheint mir, dass in der Wirtschaft, woher immer wieder die lauteste Kritik am langsamen System der Schweiz kommt, das System der «kleinen Schritte» in den letzten Jahren viel Auftrieb erfahren hat. Man nennt das dann Kaizen-Prinzip oder «Continuous Improvement», und die Firmen geben viel Geld aus, um ihre Kader in der Fähigkeit der steten kleinen Verbesserungen auszubilden.