Die Zersiedelungs-Initiative hatte vor dem Stimmvolk keine Chance - die Ablehnung mit über 67 Prozent Nein ist deutlich. Trotzdem können sich die Initianten, wie meistens in der Schweiz, trotzdem auch als Sieger fühlen. Denn sie haben viel erreicht.
Neun von zehn Volksinitiativen werden statistisch gesehen abgelehnt. Die Zersiedelungs-Initiative ist deshalb mit dem klaren Nein ein politischer Normalfall . Politisch normal ist es in der Schweiz auch, dass sich nach dem Abstimmungstag nicht nur die Sieger, sondern auch die unterlegenen Initianten als Sieger fühlen. Das ist gar nicht so falsch, denn eine der grossen Stärken des Initiativrechts (das es in dieser Form nur in der Schweiz gibt) ist, dass eine Initiative auch bei Ablehnung viel bewirkt. Und zwar auf drei Ebenen:
- Publizität: Noch kaum je wurde in der Vergangenheit so intensiv über die Zersiedelung der Schweiz berichtet und diskutiert wie in den letzten Wochen. Und auch wer vorher kaum das Wort buchstabieren konnte, weiss heute, was Zersiedelung bedeutet und warum es ein Problem für die Schweiz ist. Ein Abstimmungskampf ist für politische Informationsarbeit so etwas wie ein Sechser im Lotto.
- Politische Wirkung: «Positiv vorbestimmte Initiativen» (so nennt man im Politologen-Jargon die Anliegen, die von der Grundstimmung her auf eine positive Resonanz stossen - dazu gehört auch die Zersiedelungs-Initiative) lösen im Politbetrieb immer eine gewisse Hektik aus. Die «Classe Politique» will der Initiative und ihrer Radikalität den Wind aus den Segeln nehmen - mit einem Gegenentwurf oder anderen Zugeständnissen. Ein wunderbares Beispiel: Im Vorfeld der Abstimmung über die Mindestlohn-Initiative zauberten etliche Kantone und Branchen eigene Mindestlohn-Lösungen aus dem Hut. Und bei der Zersiedelungs-Initiative? Da hat sich gut ergeben, dass der Bundesrat kurz vor Eröffnung des Abstimmungskampfes den zweiten Teil der Raumplanungs-Gesetzesrevision ans Parlament geschickt hat. Man kann davon ausgehen, dass die Abstimmung den Gesetzestext durchaus beeinflusst hat. Um noch mehr Druck aufzusetzen, haben Umweltverbände gleich nach der Abstimmung zwei neue Initiativen angekündigt - mit dem expliziten Ziel, die weiteren Beratung des Raumplanungs-Gesetzes in den Kommissionen zu beeinflussen.
- Politische Versprechen: Wer eine Initiative bekämpft, macht immer Versprechen. Bei der Zersiedelungs-Initiative heisst das Versprechen: Das bestehende Raumplanungsgesetz wird eine weitere Zersiedelung der Schweiz stoppen, sogar noch besser als die Initiative. Dieses Versprechen machten sogar Kreise (wie der Schweizerische Gewerbeverband), die das neue Raumplanungsgesetz bei der Abstimmung im Jahr 2013 noch bekämpft hatten. Die Jungen Grünen und die anderen Unterstützer der Zersiedelungs-Initiative können ihre Gegner in Zukunft bei jeder Gelegenheit (und zu Recht) an einen wirkungsvollen Einsatz des Raumplanungsgesetzes erinnern.
Diese indirekte Wirkung von Volksinitiativen wurde 2012 in einer Dissertation untersucht (Gabriela Rohner: Die Wirksamkeit von Volksinitiativen im Bund). Sie kommt zum Schluss, dass knapp die Hälfte der Volksbegehren erfolgreich sind im Sinne einer formalen Rechtssprechung oder in der sonstigen Umsetzung konkreter Forderungen der Initianten.
Weil Initiativen also auch bei Ablehnung viel Wirkung versprechen, sind sie (u.a. als Wahlkampf-Unterstützung) so populär. In Einzelfällen kann der Schuss aber auch hinten raus gehen. So lancierten die Grünliberalen rechtzeitig auf die Wahlen 2015 die Initiative «Energiesteuer statt Mehrwertsteuer». Das Volk schickte die Vorlage mit krachenden 92% bachab, einer der höchsten Nein-Anteile der Geschichte. Ein paar Monate später musste die Partei auch in den Nationalratswahlen eine Niederlage einstecken.