Die Schweiz funktioniert politisch so gut, dass sie keine radikalen Reformen braucht. Um aber weiterhin erfolgreich zu sein, muss sie die politische Partizipation verbessern, transparenter werden, sich digital besser aufstellen, den Klimawandel bewältigen und erklären, was die EU-Frage für die direkt-demokratischen Volksrechte heisst.
Wie sieht die politische Zukunft der Schweiz aus? Oder: Wie sollte sie aussehen? Halten wir fest: Die Schweiz ist politisch wie wirtschaftlich ein Erfolgsmodell (siehe auch: «E wie erfolgreich»). Der Feind jedes Erfolgsmodells aber ist der Stillstand, deshalb fragt es sich, wie sich die Schweiz verändern soll und muss?
In ihrem Standardwerk «Schweizerische Demokratie» ziehen Wolf Linder und Sean Mueller ein Fazit, das ich vorbehaltlos unterstützen kann: Föderalismus, direkte Demokratie und Konkordanz bieten nach wie vor eine zukunftsfähige Basis für die Schweiz. «Das Zusammenwirken von Föderalismus, Volksrechten und Konkordanz führt zu einer robusten Grundstruktur (…) und macht das politische Gesamtsystem gleichzeitig leistungsfähig, bürgerfreundlich oder wenigstens für die Bürgerinnen zumutbar. Daran sollte nicht gerührt werden.» (S. 473). Eine Absage also an den grossen Reform-Wurf. Die kleinen Reformschritte sind aber genau so wichtig, und da sehe ich Bedarf bei fünf Herausforderungen:
Partizipation
Die direkte Demokratie lebt davon, dass ein Grossteil der Menschen im Land an den politischen Prozessen und Entscheidungen teilnehmen kann und will. Wie ich in «S wie Souverän» ausgeführt habe, werden in der Schweiz die Entscheide für die 8,5 Millionen Einwohner von durchschnittlich 2,4 Millionen Menschen getroffen, bei denen Männer, Ältere und Gutverdienende deutlich übervertreten sind. Es gilt also, Junge und Frauen mehr an die Urnen zu bringen, in die politische Bildung zu investieren und den immer grösser werdenden Anteil von Ausländerinnen und Ausländern adäquat an den politischen Entscheidungen zu beteiligen.
Transparenz
Die Schweiz ist eines von wenigen Ländern, das keine klaren Regelungen zur Parteien- und Abstimmungsfinanzierung kennt (siehe auch «T wie transparent»). Dass die Schweiz dadurch in Demokratie-Rankings immer wieder schlecht abschneidet: geschenkt. Viel wichtiger ist, dass Transparenz (nicht nur in Sachen Finanzierung, sondern auch z.B. beim Lobbying) entscheidend ist, dass das Vertrauen in Politik und Institutionen weiterhin hoch bleibt. Und sowieso: Für die jüngere, digitale Generation ist Transparenz unabhängig von der politischen Ausrichtung immer mehr eine Selbstverständlichkeit. In etlichen Kantonen wurden Transparenzregeln durchgesetzt, die nationale Transparenz-Initiative (oder zumindest der Gegenvorschlag) könnte gute Chancen haben.
Digitalisierung
Die aktuelle Corona-Pandemie zeigt gerade deutlich den Handlungsbedarf in Sachen Digitalisierung in Verwaltung und Parlament auf (Stichworte: virtuelle Sitzungen des Parlaments, Daten-Übermittlung ans BAG etc.). Aber natürlich ist die Digitalisierung eine viel umfassendere Herausforderung, wie Daniel Graf und Maximilian Stern in ihrer «Agenda für eine digitale Demokratie» festhalten: «Für uns steht fest, dass die Digitalisierung die Art und Weise, wie unsere Demokratie organisiert ist, fundamental verändern wird» (S.12). Gerade für die oben beschriebenen Bereiche Transparenz und Partizipation können neue digitale Tools riesige Vorteile bringen (eVoting, eCollecting, Crowd Lobbying; siehe dazu auch «V wie Vernehmlassung»). Natürlich dürfen die Risiken nicht unterschätzt werden. Mit der «Swiss Digital Initiative» hat die Schweiz den weltweiten Bemühungen, Ethik und Digitalisierung zusammen zu bringen, einen Rahmen gegeben.
Klimawandel
Die Klima-Frage wird nicht nur eines der beherrschenden Themen der Zukunft sein, sie verändert und prägt auch unser politisches System, wie die Wahlen 2019 gezeigt haben; die grünen Parteien haben massiv zugelegt, die Polarisierung wurde abgeschwächt, und mit dem Erstarken der politischen (grünen) Mitte hat das für die Konkordanz so wichtige System der wechselnden Koalitionen neue Frischluft bekommen. Der Weg in eine klimafreundliche Zukunft, wie immer er auch aussieht, muss gemeinsam und im Respekt für Konkordanz und Volkssouveränität gegangen werden.
Die EU-Frage
Kein Zweifel, die Diskussion um das Rahmenabkommen im Speziellen und um das Verhältnis zur EU im Allgemeinen wird die politische Agenda in der Schweiz kurz- und mittelfristig mitbestimmen. Dabei steht aus meiner Sicht ein «rosaroter Elefant» im Raum, der wenig thematisiert wird: Was bedeutet die EU-Frage für die direktdemokratischen Instrumente der Schweiz? Während die EU-Gegner und -Skeptiker davon ausgehen, dass bei einer Annäherung die Volksrechte in der bestehenden Form nicht mehr gewährleistet werden können, behaupten Politologen wie Linder und Mueller das Gegenteil und betonen sogar die Vorteile eines EU-Beitritts für die direkte Demokratie: «Referenden und Volksinitiativen könnten sich als authentische Opposition und wirksames Verhandlungspfand eines EU-Mitglieds erweisen» (S.471). Diese Frage muss bei den europapolitischen Diskussionen in Zukunft zwingend mit-thematisiert werden.
Die Schweiz ist ein weltpolitisches Unikum. In keinem Land der Welt können die Bürgerinnen und Bürger so viel mitbestimmen wie hier. Kein Land ist politisch so stabil wie die Schweiz. Und: In keinem Land der Welt ist das Vertrauen der Menschen in die Politik so gross wie bei uns. Ich bin überzeugt: Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Gelingen die oben angedachten Reformwege, dann kann das politische System der Schweiz auch international noch viel stärker als Anregung für Wege aus der Demokratie-Krise dienen.
Literatur:
Wolf Linder, Sean Mueller: Schweizerische Demokratie. Bern, Haupt, 2017, 4. Auflage.
Adrian Vatter: Das politische System der Schweiz. Baden-Baden, Nomos, 2016, 2. Auflage.
Daniel Graf, Maximilian Stern: Agenda für eine digitale Demokratie. Zürich, NZZ Libro, 2018.
Aargauer Zeitung, Othmar von Matt, 4.5.20: "Wie kann die Schweizer Demokratie digitaler werden? 10 Vorschläge von Buchautor Daniel Graf"