M wie Milizsystem

Politik im Nebenamt

In den Schweizer Gemeinden wird Politik im Nebenamt betrieben (Photo by Tran Mau Tri Tam on Unsplash)
In den Schweizer Gemeinden wird Politik im Nebenamt betrieben (Photo by Tran Mau Tri Tam on Unsplash)
16.06.2019

Die meisten Politikerinnen und Politiker in der Schweiz üben ihr Amt als Nebentätigkeit aus - neben ihrem «richtigen» Beruf. Dieses Milizsystem gehört neben der Konkordanz, den Volksabstimmungen und dem Föderalismus zu den Kernelementen der Schweizerischen Demokratie. Das Milizsystem ist, um mit Claude Longchamp zu sprechen,«auf Gemeindeebene ein Segen, auf kantonaler Ebene ein Vorteil und auf Bundesebene eine Fiktion.» Und es ist unter Druck.

Die Schweiz kennt als eines von wenigen Ländern kein Berufsparlament, die Nationalrätinnen und Ständeräte üben, zumindest offiziell, ihre Funktion nebenamtlich aus. Inoffiziell sieht es anders aus: Bereits ein Fünftel der Nationalräte und zwei Fünftel der Ständeräte geben an, Berufspolitiker zu sein. Kein Wunder, denn gemäss einer vom Parlament in Auftrag gegebenen Erhebung braucht ein Mitglied des Nationalrats fast 90 Prozent seiner zur Verfügung stehenden Arbeitszeit für die politische Tätigkeit; beim Ständerat sind es gut 70 Prozent. So erstaunt es auch nicht, dass bei den «berufstätigen» Parlamentariern Funktionen besonders beliebt sind, die mit der politischen Tätigkeit in direktem Zusammenhang stehen. Zum Beispiel bei Krankenkassen, im Gewebeverband, bei Gewerkschaften oder Verkehrsverbänden.

Gut verankert, aber auch genug professionell?

Der Vorteil des Milizsystems (so es denn noch eines ist): die Volksvertreter sind im Volk verankert, kennen die Probleme an der Basis, bewegen sich weniger als in anderen Ländern in abgehobenen Sphären des Polit-Betriebs. Der Nachteil: Das Milizsystem kommt der Professionalisierung nicht unbedingt entgegen. Die politische Tätigkeit hat eine Komplexität erreicht, die auf Bundesebene nebenamtlich kaum mehr zu bewältigen ist; heute stehen rund dreimal so viele Geschäfte auf der Traktandenliste der Räte als noch vor 30 Jahren. Dazu kommt die deutlich anspruchsvollere Medienarbeit. Trotzdem geniesst das Miliz-Parlament in Politik, Wirtschaft und Bevölkerung nach wie vor grossen Rückhalt. 

In Politologenkreisen dagegen wird schon lange eine Professionalisierung verlangt. Claude Longchamp schlägt zum Beispiel ein Berufsparlament vor, kombiniert mit einer Amtszeitbeschränkung. «Eine solche Reform würde auch die störenden Interessenkonflikte beseitigen. Heute können Sie Arzt sein, eine Gesundheitskommission präsidieren und auch noch einen grossen Verband leiten» (NZZ am Sonntag, 14.5.2017). Und danach Bundesrat werden, müsste man ergänzen, denn das Beispiel verweist auf den heutigen Bundesrat Ignazio Cassis.

Gemeinde-Miliz unter Druck

Zahlenmässig ungleich wichtiger für das politische System der Schweiz ist aber die Milizarbeit in den Kantonen und vor allem den Gemeinden (siehe dazu auch G wie Gemeinde). Ungefähr 100'000 Menschen engagieren sich freiwillig und gegen eine geringe Entschädigung als Gemeindepräsidentin oder -Rat, Mitglied eines kantonalen oder kommunalen Parlaments oder einer Kommission. Doch das Milizsystem ist unter Druck: Mehr als die Hälfte aller Schweizer Gemeinden hat Schwierigkeiten, Personal für die zu besetzenden Ämter zu finden. Verantwortungsbereiche und Autonomie in den Gemeinden haben abgenommen, zugenommen hat die Komplexität der Aufgaben, die zeitliche Belastung und der Erwartungsdruck der Öffentlichkeit, oft verbunden mit harscher Kritik. Auch nicht gerade förderlich für ein Engagement zum Wohl der Allgemeinheit ist die zeitgeistige Individualisierung und Selbstverwirklichung. 

Reformen ja, aber vor allem mehr Anerkennung

Politik, Wissenschaft und Medien befassen sich mittlerweile intensiv mit der Reform des Milizsystems (der Schweizerische Gemeindeverband hat 2019 sogar zum Jahr der Miliz erklärt). Wissenschaftler der Unis Bern und Lausanne haben das Milizsystem in 75 ausgewählten Gemeinden untersucht und dabei die kommunalen Milizpolitiker auch gefragt, wie sie das System reformieren würden. Die Antwort: Die Milizämter sollten vom operativen Alltagsgeschäft entlastet werden und mehr strategische Aufgaben bekommen. Die Befragten würden eine bezahlte Schulung für Miliz-Einsteiger begrüssen und sind gegenüber Gemeindefusionen offen. Auch höhere Entschädigungen wären willkommen, aber nicht zwingend. Eine Mehrheit der Befragten würde es begrüssen, wenn niedergelassene Ausländerinnen und Ausländer kommunale Ämter übernehmen könnten.  

Am wirksamsten aber wäre wohl, wenn die Milizarbeit in der Schweiz wieder mehr Anerkennung und Wertschätzung bekäme. Denn eine Erkenntnis der Wissenschaftler muss zu denken geben: «Nur ein Viertel unserer Befragten nimmt seine Arbeit als von der örtlichen Gemeinschaft wertgeschätzt wahr, und nicht einmal jeder Zehnte berichtet von einer Anerkennung durch die Medien. Angesichts dieser Zahlen darf es auf lokaler Ebene nicht erstaunen, wenn sich die anspruchsvolle Beteiligungsdemokratie zur bequemen Zuschauerdemokratie verändert.»


Literaturhinweise: 

Markus Freitag, Pirmin Bundi, Martina Flick Witzig: Milizarbeit in der Schweiz. NZZ Libro, 2019.
Adrian Vatter: Das politische System der Schweiz. Baden-Baden, Nomos 2016, 2. Auflage.
Website des Schweizerischen Gemeindeverbandes zum Jahr der Miliz.