Initiativen sind wie ein Ventil: Wenn die grosse Politik die Probleme der kleinen Leute vernachlässigt, dann können diese jener Beine machen mit der Einreichung einer Volksinitiative. Auch wenn die Erfolgsaussichten einer Initiative rein statistisch gesehen gering sind, können sie doch sehr viel bewirken.
Die Initiative wird auch «das Gaspedal der direkten Demokratie» genannt (während das Referendum die Bremse wäre). Privatpersonen, Vereine oder Parteien können eine Initiative starten; wenn 100‘000 Unterschriften für das Anliegen beisammen sind, dann wird darüber abgestimmt. Zustimmen müssen die Mehrheit des Stimmvolks und die Mehrheit der Stände (doppeltes Mehr).
Seit Einführung der Volksinitiative im Jahr 1891 ist sie ein Instrument der linken und der progressiven Kräfte, um soziale Ungleichheit anzuprangern (Ausbau AHV, Verringerung Arbeitszeit, Lohngerechtigkeit) und um die Volksrechte auszubauen (Proporzwahl Nationalrat, Gesetzesinitiative). In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts kamen ökologische Anliegen dazu (Atomausstieg, Moorschutz, Grüne Wirtschaft), und vermehrt nahmen auch konservative Kräfte das Instrument wahr, bevorzugt bei Ausländer-Themen (Überfremdung, Masseneinwanderung).
Seit 1980 deutlich mehr Initiativen
Lange Zeit waren die Volksinitiativen nicht sonderlich populär. So gab es bis 1980 gesamthaft nur 75 Abstimmungen über Volksinitiativen, also weniger als eine pro Jahr. Ab dann ging es aber rasant bergauf: Von 1981 bis heute (2019) wurde über 141 Initiativen abgestimmt, also fast vier pro Jahr. Seither ist auch die Kritik an der Volksinitiative lauter geworden: Soll die Unterschriftenzahl erhöht werden? Sollen Initiativen, die nicht oder nur knapp mit dem übergeordneten Völkerrecht vereinbar sind, ungültig erklärt werden? Dürfen Parteien die Initiativen als Wahlkampf-Helfer (miss)brauchen? Alle Reformvorschläge sind aber bisher gescheitert.
Erfolgschancen klein - und trotzdem erfolgreich
Neun von zehn Volksinitiativen werden statistisch gesehen abgelehnt. Auffällig ist aber, dass sich nach dem Abstimmungstag normalerweise nicht nur die Gegner der Initiative, sondern auch die unterlegenen Initianten als Sieger fühlen. Das ist gar nicht so falsch, denn eine der grossen Stärken des Initiativrechts (das es in dieser nationalen Form nur in der Schweiz gibt) ist, dass eine Initiative auch bei Ablehnung viel bewirkt. Und zwar auf drei Ebenen:
Publizität: von der Einreichung einer Initiative über die Debatte im Parlament bis zum eigentlichen Abstimmungskampf wird das Thema der Initiative mehrere Jahre medial und gesellschaftlich breit diskutiert.
Politische Wirkung: Fast alle Initiativen lösen im Politbetrieb eine gewisse Hektik aus. Die «Classe Politique» will der «radikalen Initiative» den Wind aus den Segeln nehmen - mit einem Gegenentwurf oder anderen Zugeständnissen. Ein Beispiel: Im Vorfeld der Abstimmung über die Mindestlohn-Initiative zauberten etliche Kantone und Branchen eigene Mindestlohn-Lösungen aus dem Hut.
Politische Versprechen: Wer eine Initiative bekämpft, macht immer Versprechen. So versprach zum Beispiel die Gegnerschaft der Zersiedelungs-Initiative, das bestehende Raumplanungsgesetz würde eine weitere Zersiedelung der Schweiz stoppen. Die unterlegenen Initianten können ihre Gegner in Zukunft bei jeder Gelegenheit (und zu Recht) an die Versprechen erinnern.
Diese indirekte Wirkung von Volksinitiativen hat Gabriela Rohner 2012 in ihrer Dissertation untersucht. Sie kommt zum Schluss, dass knapp die Hälfte der Volksbegehren erfolgreich sind im Sinne einer formalen Rechtssprechung oder in der sonstigen Umsetzung konkreter Forderungen der Initianten.
Parlament bleibt auch bei Initiativen das gesetzgebende Organ
Wird eine Initiative angenommen, muss von Regierung und Parlament ein Gesetzestext ausgearbeitet werden. Hier liegt, oft zum Ärger der Initianten, ein gewisser Spielraum für die Umsetzung des Initiativtexts. So wurde die 2014 angenommene Masseneinwanderungs-Initiative aus Sorge um das Wohlergehen der Schweiz nur in einer sehr abgeschwächten Version umgesetzt. Das Gleiche passierte mit der Ausschaffungs-Initiative, bei der eine Härtefall-Regelung dem Initiativtext die Schärfe nahm. Dass dies nicht nur mit Anliegen von nationalkonservativer Seite passiert, zeigt die linksgrüne Alpeninitiative: Die wurde 1994 angenommen, bis 2004 hätte gemäss Verfassungs- und Gesetzestext das Verlagerungsziel von 650'000 alpenquerenden Lastwagen pro Jahr erreicht werden sollen. Mit über einer Million LKWs sind wir heute noch immer weit weg davon.
Gabriela Rohner: Die Wirksamkeit von Volksinitiativen im Bund 1848-2010. Zürich, Schulthess, 2012.
Adrian Vatter: Das politische System der Schweiz. Baden-Baden, Nomos 2016, 2. Auflage.