Kein Land hat häufiger genutzte und stärker ausgebaute Volksrechte als die Schweiz. Doch wie ist diese «Herrschaft des Volkes» entstanden? Kurz gesagt: Die moderne direkte Demokratie in der Schweiz hat traditionelle und revolutionäre Wurzeln. Und sie musste erkämpft werden. Historisch: das H aus dem A-Z der Schweizer Demokratie.
Die traditionellen Wurzeln der direkten Demokratie liegen in den Landsgemeinde-Versammlungen. In den 500 Jahren vor der Gründung des Schweizerischen Bundesstaates gab es in acht «Kantonen» solche jährlichen Versammlungen, an denen gewählt und abgestimmt wurde. Das Volk hatte in diesen Orten deutlich mehr zu bestimmen als in den meisten anderen Gegenden der damaligen Zeit, die monarchisch und aristokratisch geprägt waren. Trotzdem waren die damaligen Landsgemeinden nicht wirklich demokratisch, wie wir uns das heute vorstellen. Voll stimmberechtigt waren nur die wehrfähigen Landleute, daneben gab es viele Niedergelassene mit beschränkten Rechten, rechtlose Untertanen und sogar Leibeigene. Zudem konnten die Herrschenden zum Teil recht willkürlich bestimmen, welche Geschäfte sie der Landsgemeinde vorlegen und welche nicht.
Französische Revolution als Inspiration
Die revolutionären Wurzeln der modernen direkten Demokratie begannen dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu wirken. Im Zug der liberalen Erneuerungsbewegungen, die stark von den Ideen der französischen Revolution geprägt waren, führten in den 1830er-Jahren viele der damaligen Kantone das obligatorische Verfassungsreferendum ein; Verfassungsänderungen mussten also dem Volk vorgelegt werden. Der Kanton St.Gallen kannte sogar ab 1831 ein Gesetzesveto, einen Vorläufer des heutigen Referendums, und ab 1838 eine Frühform der heutigen Volksinitiative: Wenn 10‘000 Stimmberechtige ein Initiativbegehren unterstützten, konnte eine Abstimmung durchgeführt werden.
Die Vorgänge in den Kantonen prägten auch die erste Bundesverfassung von 1848, die auf nationaler Ebene das obligatorische Verfassungs-Referendum und die Volksinitiative auf Totalrevision der Verfassung vorsah. Das bedeutete auch, dass das Demokratiesystem noch stark repräsentativ war, das Volk hatte bei Gesetzeserlassen nichts zu sagen und konnte auch keine eigenen Vorschläge für Verfassungsänderungen einbringen. Weiter gingen in dieser Hinsicht schon bald viele Kantone, in denen die demokratischen Kräfte eine Mitsprache bei der Gesetzgebung verlangten. Eine Vorreiterrolle hatte dabei der Kanton Basel-Landschaft: Ab 1863 mussten alle vom kantonalen Parlament beschlossenen Gesetze den Stimmbürgern in den Gemeinden vorgelegt werden. In den folgenden Jahren führten auch etliche andere Kantone das obligatorische Gesetzesreferendum ein.
1874 und 1891: Die Instrumente der direkten Demokratie entstehen
Der Druck aus den Kantonen führte schliesslich auch auf Bundesebene zu einem wichtigen Schritt: 1874 wurde das fakultative Gesetzesreferendum eingeführt, das heute noch besteht: mit einer Unterschriftensammlung kann eine Abstimmung über ein erlassenes Gesetz erzwungen werden. Und keine zwei Jahrzehnte später, 1891, kam das zweite direktdemokratische Instrumente der heutigen Schweiz dazu, die Volksinitiative für eine Teilrevision der Verfassung. Doch auch dafür brauchte es zuerst den Druck aus den Kantonen, denn ab 1869 führte die Mehrheit der Kantone innert weniger Jahre die Gesetzesinitiative ein, also die Möglichkeit, durch Unterschriftensammlung eine Abstimmung über einen selbst formulierten Gesetzesvorschlag zu erzwingen.
So war 1891 bereits das heutige System der Volksbeteiligung geschaffen, dazu kam 1921 mit dem Staatsvertrags-Referendum noch die Mitsprache des Volkes in aussenpolitischen Fragen. Eine echte direkte Demokratie wurde die Schweiz aber erst, als das Frauenstimmrecht 1971 eingeführt wurde und damit die andere Hälfte des Volkes politisch mitreden konnte. Damals wurde auch die Zahl der erforderlichen Unterschriften angepasst: beim Referendum von 30‘000 auf 50‘000, bei der Initiative von 50‘000 auf 100‘000.
Der Druck von unten
Die Geschichte der direktdemokratischen Instrumente zeigt: Freiwillig gaben die Herrschenden nicht gerne einen Teil der Macht ab. Es brauchte Druck von denen, die im System zu kurz kamen: den Kantonen, den einfachen Bürgern, den Frauen, der Opposition. Die Machtteilung, die für das politische System der Schweiz so typisch ist (siehe C wie CH), musste deshalb in verschiedenen Schritten erarbeitet und auch erzwungen werden.
Literatur:
Adrian Vatter: Das politische System der Schweiz. Baden-Baden, Nomos 2016, 2. Auflage.
Wolf Linder, Sean Müller: Schweizerische Demokratie. Bern, Haupt, 2017. 4. Auflage.
Silvano Möckli: Die Schweizerischen Landsgemeinde-Demokratien. Bern, Haupt, 1987.