Beim zweiten Buchstaben des kleinen Demokratie-A bis Z geht es schon um eine sehr umstrittene Frage in der direkten Demokratie: Sind die Stimmbürgerinnen und -Bürger überfordert von der Komplexität der Materie? Und sind Entscheide «aus dem Bauch» heraus grundsätzlich schlecht?
Wenn Bürger aus dem Bauch heraus entscheiden, weil a) sie sich nicht genügend informiert haben, b) die Komplexität einer Vorlage zu gross ist, oder c) der Bauch über den Kopf bzw. die Emotion über den Verstand siegt, dann kann ja nichts Gutes herauskommen; so die gängige Meinung. Das ist zu kurz gegriffen.
Auf bekannte Kriterien abstützen
Nichts gegen gut informierte Bürgerinnen und Bürger. Aber dort wo die Komplexität einer Materie pro verfügbare Zeit zu gross wird, spielt der «Bauch» eine entscheidende und durchaus sinnvolle Rolle. Der Psychologe Gerd Gigerenzer zeigt in seinem Buch «Bauchentscheidungen» (1) eindrücklich, dass Bauchentscheidungen häufig sinnvoller und erfolgreicher seien als sogenannt logische. Eine Bauchentscheidung stützt sich auf wenige bekannte Kriterien, die die Komplexität einer Materie eingrenzen; Gigerenzer nennt dies «Rekognitionsheuristik». Genauso machen es übrigens auch Sportler, die oft den Satz äussern: Nur nicht zu viel denken! Wenn Roger Federer seinen Return millimetergenau ins Feld drischt, dann hat er nicht die Flugbahn des Balles vorher berechnet und wahrscheinlich auch nicht bewusst «entschieden», wohin er den Ball spielt, sondern verlässt sich auf die internalisierten Bewegungsabläufe und auf seinen «Instinkt».
Empfehlungen sind wichtig
Auf die Politik und die Abstimmungen übertragen: Wenn die Materie zu komplex ist oder sich die Stimmbürger nicht entscheiden können, dann verlassen sie sich auf bekannte Muster und Kriterien: Welche Parole hat meine Lieblingspartei ausgegeben? Welche Seite erscheint glaubwürdiger im Auftreten? Sind meine Freunde dafür oder dagegen? Eine praktische Anwendung der Rekognitionsheuristik haben viele Stimmbürgerinnen und Stimmbürger bei der Unternehmenssteuerreform III vorgenommen; weil die Vorlage für sie zu komplex war, haben über ein Drittel ausschliesslich auf Empfehlungen von Parteien, Verbänden und Einzelpersonen (u.a. der ehemaligen Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf) ihre Stimme abgegeben. Die bekannteste Form der Rekognitionsheuristik bei Abstimmungen ist übrigens die: Wenn man nicht überzeugt ist von einer Vorlage, dann stimmt man Nein und alles bleibt beim Alten.
Die Angst vor dem unberechenbaren Bürger
Diese Sicht der Dinge hat allerdings seit dem Brexit-Entscheid und der Wahl von Donald Trump einen schweren Stand gegen ein eigentliches Demokratie-Bashing. So behauptet der Amerikaner Jason Brennan in seiner Streitschrift «Against Democracy» (2), Demokratie könne gar nicht funktionieren, weil sie auf gut informierte Bürger angewiesen sei, die wenigsten sich aber wirklich für Politik interessieren und deshalb anfällig seien für politische Rattenfänger, Demagogen und Fehlentscheide. Das tumbe Volk also. Sein Vorschlag: Man solle doch nur die Vernünftigen wählen und abstimmen lassen. Eine Elite-Demokratie sozusagen. Oder der Belgier David van Reybrouck (3). Er will Wahlen abschaffen und dafür die politischen Repräsentanten per Los auswählen. Die Motivation für diesen Vorschlag ist ebenfalls die Angst vor dem uninformierten und damit unberechenbaren Bürger.
Aus Brexit und der Trump-Wahl zu folgern, man müsse demokratische Prozesse abschaffen, ist aber ebenso absurd wie kurzsichtig. Gerade das Beispiel der Schweiz zeigt, dass das Ergebnis nicht das schlechteste ist, wenn die Bürgerinnen und Bürger mitreden können. Und wenn dennoch mal etwas so richtig schief läuft: Demokratie lebt auch davon, dass eine Gesellschaft aus früher getroffenen Entscheiden lernt und diese allenfalls korrigiert. Das ist dann vielleicht auch wieder ein Bauchentscheid.
1) Gerd Gigerenzer: «Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition». Bertelsmann, 2007.
2) Jason Brennan: «Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen.» Ullstein Taschenbuch, 2017.
3) David Van Reybrouck: «Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist.» Wallstein, 2016.